„Man kann sich immer wieder neu erfinden…“

Die Weltmeisterin am Schwebebalken, Pauline Schäfer, über ihren WM-Wettkampf 2017 und ihre turnsportliche Begeisterung

Deutschland ist Fußball-Weltmeister. Das ist hinlänglich bekannt. Im Rodeln ist Schwarz-Rot-Gold ebenfalls extrem weltmeisterlich, was die Konkurrenz nahezu zum schlittensportlichen Verzweifeln bringt. Auch im Faustball, Dressur-Reiten, Hallen-Hockey oder Kunstradsport gibt es eine ähnliche deutsche Dominanz.

Symbolbild-Turnen

Wieder oben dran…

Im Frauen-Turnsport war Deutschland ebenfalls einmal mit führend, verlor seinen Platz unter den führenden Nationen dort allerdings Ende der 1980er Jahre. Inzwischen ist Schwarz-Rot-Gold aber auch im Frauen-Turnsport wieder auf einem guten Weg. So gewann die gebürtige Wolfsburgerin Sophie Scheder zweimal Silber bei den Europaspielen 2015 am Stufenbarren bzw. in der Mannschaftswertung (mit Leah Grießer und Elisabeth Seitz) und wurde Olympia-Dritte 2016 am Stufenbarren. Janine Berger vom SSV Ulm hatte zuvor bei Olympia 2012 Bronze beim Sprung hauchdünn verpasst.

Elisabeth Seitz, die gebürtige Heidelbergerin, sorgte zudem in den letzten Jahren immer wieder für ausgezeichnete Ergebnisse bei internationalen Turn-Wettkämpfen, schaffte unter anderem Silber im Mehrkampf bei den EM 2011 und Bronze am Stufenbarren bei den EM 2017.

Des Weiteren begeistert seit einigen Jahren auch Kim Bui vom MTV Stuttgart bei internationalen Turn-Konkurrenzen. Bereits bei den EM 2011 hatte Kim Bui Bronze am Stufenbarren erkämpft. Bei der Universiade 2013 konnte sich Kim Bui ebenfalls schon über Medaillen freuen: über Bronze mit dem Team und im Einzel-Mehrkampf. Im letzten Jahr errang Kim Bui bei der Universiade 2017 Silber am Stufenbarren.

Pauline schrieb Geschichte/Deutschland und der globale Schwebebalken

Eine deutsche Turnerin, Pauline Schäfer, Jahrgang 1997, schrieb allerdings vor einem Jahr Geschichte. Die gebürtige Saarländerin vom TuS 1861 Chemnitz-Altendorf wurde in Montreal 2017 Weltmeisterin auf dem Schwebebalken, nachdem sie 2015 in Glasgow am gleichen Gerät bereits Dritte wurde.

Am weltmeisterlichen Schwebebalken war ja auch eine Rostockerin einst erfolgreich. Christine Schmitt wurde 1970 bei den WM in Ljubljana gemeinsam mit der Russin Larisa Petrik Dritte, hinter Teamkollegin Erika Zuchold und Cathy Rigby aus den USA. Erika Zuchold war damit die erste Deutsche, die WM-Gold am Schwebebalken holte. Ihr folgten Maxi Gnauck 1981 und eben Pauline Schäfer 2017. Dazu gab es an diesem Gerät bei WM noch vier weitere Bronze-Plaketten für Deutschland: durch Regina Grabolle 1979, durch die erwähnte Christine Schmitt 1970, durch die 2017er Weltmeisterin Pauline Schäfer 2015 und durch Tabea Alt 2017…

Am olympischen Schwebebalken gelang deutschen Turnerinnen hingegen nur einmal ein Medaillen-Gewinn: 1972 in München mit Bronze durch Karin Janz.

Wie ist die Gemütslage mehr als ein Vierteljahr nach dem Gold-Triumph jedoch bei Pauline Schäfer?!

MV-SPORT fragte nach

Pauline Schäfer über ihren Erfolg, ihre Begeisterung am Turnsport und den Stellenwert des Turnens in Deutschland

„Man kann sich immer wieder neu erfinden…“

Frage: Nach 36 Jahren, nach dem WM-Sieg von Maxi Gnauck 1981 am Schwebebalken, sorgten Sie wieder für einen deutschen WM-Triumph an diesem Gerät. Zudem: Nach 30 Jahren, nach dem WM-Gold von Dörte Thümmler 1987 am Stufenbarren, sorgten Sie wieder für goldene WM-Zeiten im deutschen Frauen-Turnsport. Was bedeutet Ihnen dieser Erfolg persönlich? Wie verlief der Wettkampf aus Ihrer Sicht?

Pauline Schäfer: Der Sieg bedeutet für mich sehr viel. Allerdings vergesse ich immer, dass es schon so lange her war, als die letzten Medaillen gewonnen wurden… Der Wettkampf verlief sehr gut. Ich hatte einfach ein gutes Gefühl.

Frage: Sie widmen sich einer sehr traditionsreichen Sportart, die mittlerweile nur noch vermeintliche Randsportart ist, wie andere Sportarten im Vergleich zum Fußball oder zu den neuen „Fun-Sportarten“ auch. Sogar ein Nachrichtenmagazin aus Hamburg widmete sich dieser Thematik… Wie beurteilen Sie selbst den Stellenwert des Turnens in Deutschland? Was fasziniert Sie am Turnen?

Pauline Schäfer: Der Stellenwert des Turnens ist schon deutlich gestiegen. Dennoch bin ich der Meinung, dass er noch nicht hoch genug ist. Aber nicht nur im Turnen ist das ein Problem. Auch andere Randsportarten, wie zum Beispiel Eiskunstlauf, Radsport, Ringen und viele andere mehr, bekommen viel zu wenig Aufmerksamkeit. Turnen ist unglaublich vielfältig. Man kann sich immer wieder neu erfinden und durch die Luft fliegen. Es fordert einen stets erneut heraus. Man kann an seine Grenzen gehen und von anderen Sachen abschalten.

Frage: Welche sportlichen Ambitionen haben Sie für 2018 und darüber hinaus?

Pauline Schäfer: Dieses Jahr steige ich erst wieder zu den deutschen Meisterschaften ein. Ich möchte neue Elemente lernen und mich auf die EM und WM vorbereiten. Im Jahr 2019 ist dann die Heim-WM in Stuttgart. Da will ich dabei sein und natürlich 2020 bei den Olympischen Spielen in Tokyo.

Letzte Frage: Was ist Ihr Ausgleich zum Turnen?

Pauline Schäfer: Einen Ausgleich zum Sport habe ich nicht wirklich. Ich gehe abends in die Schule. Das muss reichen…

Vielen Dank, alles erdenklich Gute 2018 sowie darüber hinaus und weiterhin maximale Erfolge im Turnsport!

 

Exkurs:

Vor 30 Jahren – Olympisches Turnen 1988 in Seoul

Symbolbild: envato elements

Vor 30 Jahren fanden die letzten olympischen Turn-Wettkämpfe vor der geopolitischen „Wende“ statt. In der 14700 Zuschauer umfassenden „Olympic Park Gymnastics Hall“ in Seoul wetteiferten 1988 nach den Boykott-Spielen von 1980 in Moskau sowie 1984 in Los Angeles wieder die Gesamtheit der weltbesten Turnerinnen und Turner um Olympia-Medaillen und gute Platzierungen.

UdSSR – auch im Turnen 1988 führend

Dominierend war dabei die „Union der fünfzehn sozialistischen Sowjetrepubliken“, die 11 x Gold, 5 x Silber, 3 x Bronze gewann. Die Goldmedaillen in den Mannschafts-Wettbewerben gingen jeweils an die noch bis 1991 bestehende UdSSR – aus heutiger Sicht „multinationale Teams“, denn in der sowjetischen Männer-Riege agierten Turner aus Russland, Kasachstan sowie Georgien und in der sowjetischen Frauen-Riege waren Turnerinnen aus Russland, Weissrussland, der Ukraine und Lettland aktiv.

Spektakulärer Turnsport und einseitige Kampfrichter

Einerseits gab es in Seoul technisch anspruchsvolle, spektakuläre Übungen, andererseits überschatteten viele umstrittene Kampfrichter-Entscheidungen, oft zu Gunsten der UdSSR und anderer Ostblock-Staaten, die Turn-Wettkämpfe.

Am erfolgreichsten bei den Turnern war letztendlich der Russe Wladimir Artjomow, der Gold im Mannschafts-Wettkampf, im Einzel-Mehrkampf, am Barren bzw. am Reck und Silber am Boden erkämpfte. Bei den Frauen war die Rumänin Daniela Silivas das „Maß aller Dinge“ und wurde die Beste am Stufenbarren, am Schwebebalken und am Boden. Dazu errang Daniela Silivas Silber mit dem rumänischen Team sowie im Einzel-Mehrkampf und Bronze beim Pferdsprung. Hoch umstritten war dabei die Entscheidung im Frauen-Mehrkampf-Einzel, bei der die Russin Jelena Schuschunowa (Wertung: 79,662 Punkte) vor der eigentlich besser turnenden Daniela Silivas (Wertung: 79,637 Punkte) von den Kampfrichtern auf Rang eins gesetzt wurde.

Drei Goldmedaillen wurden sogar am Seitpferd vergeben – für den Bulgaren Ljubomir Geraskow, den Ungarn Zsolt Borkai und den Russen Dimitri Bilosertschew.

Unfairness gegenüber den Amerikanerinnen

Ziemlich unfair wurden die USA-Turnerinnen mit Phoebe Mills, Brandy Johnson, Kelly Garrison-Steves, Hope Spivey, Chelle Stack und Melissa Marlowe von den Preisrichtern behandelt. Am Ende unterlagen sie der DDR-Frauen-Riege mit Martina Jentsch, Gabriele Fähnrich, Ulrike Klotz, Bettina Schieferdecker, Dörte Tümmler und Dagmar Kersten denkbar knapp in der Mannschafts-Wertung um Bronze (USA: 390,575 Punkte – DDR: 390,875 Punkte). Es wäre richtig gewesen, hier zwei Bronze-Medaillen „zu spendieren“…

Südkorea und auch M-V mit Turn-Jubel 1988

Die südkoreanischen Gastgeber freuten sich 1988 ebenfalls über eine olympische Turn-Medaille – durch Park Jong-Hoon mit Bronze im Pferdsprung.

Aus deutscher Sicht erkämpften nur die Turnerinnen und Turner aus der DDR 1988 Medaillen. Neben den DDR-Mädels im Mannschafts-Wettbewerb waren „turnsportive Medaillen-Sammler“ auch die DDR-Männer-Rieger mit Silber im Mannschafts-Wettbewerb, Holger Behrendt mit Gold an den Ringen (zusammen mit Dimitri Bilosertschew, Russland) bzw. mit Bronze am Reck (zusammen mit Marius Gherman, Rumänien), Sylvio Kroll mit Silber beim Pferdsprung, Sven Tippelt mit Bronze an den Ringen bzw. am Barren und Dagmar Kersten mit Silber am Stufenbarren.

M-V jubelte turnsportlich 1988 zudem mit. Der gebürtige Neustrelitzer Ulf Hoffmann war Mitglied der silbernen DDR-Riege der Männer und Christine Thoms (SC Empor Rostock) fungierte als Ersatz-Turnerin der bronzenen DDR-Mannschaft der Frauen.

Die USA kamen dann in Seoul doch noch zu einer Medaille – dank Phoebe Mills, die Bronze zusammen mit Gabriela Potorac aus Rumänien am Schwebebalken erturnte.

Brandy Johnson – mit Gold in Cottbus 1989

Eine US-Amerikanerin, die 1988 bei Olympia dabei war, sorgte dann beim traditionsreichen „Turnier der Meister“ in Cottbus ein Jahr später, im Jahr 1989, für viel Furore. Die anmutige Brandy Johnson war dort im Mehrkampf die Nummer eins. Zwei Jahre zuvor, 1987, hatte in Cottbus schon ein nordamerikanisches Duo begeistert. Lori Strong (Kanada), auch in Seoul 1988 am Start, wurde mit ihrem Turn-Kollegen Michael Inglis Sieger beim Paar-Turnen in der brandenburgischen Stadt.

Das „Turnier der Meister in Cottbus“: Alles begann in Schwerin…

Das „Turnier der Meister“ findet 2018 zum 42.Mal – vom 23.November bis 26.Novemberl- in Cottbus, in der Lausitz-Arena, statt… Dessen „sportliche Keimzelle“ ist jedoch der internationale Turn-Wettkampf 1973 in Schwerin, bei dem Irene Abel und Wolfgang Thüne die Mehrkämpfe für sich entschieden.

M-V spielte auch danach beim „Turnier der Meister“ im Turnen eine Rolle. Die gebürtige Rostockerin Jana Günther (Olympia-Teilnehmerin 1992) gewann 1993 in Cottbus den Mehrkampf der Frauen und die gebürtige Rostockerin Kathleen Stark-Kern (Olympia-Teilnehmerin 1992, 1996) „holte“ 1997 an gleicher Stelle beim Sprung-Wettkampf Gold.

Statistisches zum Schwebebalken

Turnen ist auch in M-V „in“. M.M.

Erste Weltmeisterin am Schwebebalken wurde bei den Welt-Titelkämpfen vor achtzig Jahren, 1938, in Prag Vlasta Dekanova aus der Tschechoslowakei. Den vorerst letzten WM-Titel dort sicherte sich Pauline Schäfer 2017. Insgesamt verteilen sich die bisherigen vergebenen 37 WM-Titel am Schwebebalken wie folgt: Rumänien acht Erfolge, die USA 7 Erfolge, die Sowjetunion/Russland 7 Erfolge (darunter Russland 2, die RSFSR 4 und die Ukrainische SSR einen), China 5 Erfolge, die Tschechoslowakei/Tschechien 4 Erfolge, Deutschland (mit der DDR und Westdeutschland) 3 Erfolge, die Ukrainische Republik, Polen und Japan je einen Erfolg.

In Helsinki 1952 wurde hingegen die erste Olympiasiegerin am Schwebebalken ermittelt – Nina Botscharowa (Sowjetunion/Ukrainische SSR). In Rio, bei den dortigen Olympischen Spielen 2016, wurde die vorerst letzte Olympiasiegerin am Schwebebalken ermittelt: Sanne Wevers aus den Niederlanden. Die bisherigen vergebenen 18 Olympiasiege am Schwebebalken erkämpften Rumänien (6), die Sowjetunion (4, darunter Ukrainische SSR 2, die RSFSR bzw. die Weißrussische SSR je einen), die Tschechoslowakei/Tschechien, die USA bzw. China je 2, Ungarn und die Niederlande je einen.

… Wichtige Turn-Events 2018: Im Rahmen der „European Sports Championships“ vom 2.August bis 12.August in Glasgow finden auch die Turn-EM 2018 statt. Zwischen 6.Oktober und 18.Oktober gibt es hingegen die Turn-Wettkämpfe bei den Olympischen Jugend-Sommerspielen in Buenos Aires. Der turnsportliche Jahreshöhepunkt, die Turn-WM 2018, wird dann vom 25.Oktober bis 3.November in Doha ausgetragen.

Marko Michels

 

 

 

 

 

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